Zum angespannten Verhältnis zwischen Berlin und Warschau sowie der Entwicklung in einigen EU-Mitgliedstaaten äußerte sich Bernd Lange im Interview mit der in Hannover erscheinenden "Neue Presse".

„Im extremsten Fall gäbe es Krieg“

von petra rückerl

Bernd Lange (SPD) aus Hannover ist seit 1994 mit einer kurzen Unterbrechung Europaabgeordneter. Der 60-Jährige erklärt im NP-Interview, wie man Warschau zur Räson bringen könnte.

Welche Handhabe hat Brüssel gegen das EU-Land Polen?

Mit dem Lissabon-Vertrag haben wir ein neues Instrument, nämlich die Prüfung der Rechtsstaatlichkeit in Artikel 7 auf Antrag von Mitgliedsstaaten oder des Parlamentes. Das werden wir sehr intensiv tun, und dann kann ein entsprechendes Verfahren eingeleitet werden. Es wird überprüft, ob gegen die Grundrechtecharta, insbesondere die Meinungsfreiheit, verstoßen wurde. Im schlimmsten Fall können die Stimmrechte Polens ausgesetzt werden. Entscheidungen zum Beispiel über die Verteilung finanzieller Mittel könnte Warschau dann nicht mehr beeinflussen.

Das heißt, man könnte Warschau den Geldhahn zudrehen?

Exakt. Es gibt diesen finanziellen Hebel.

Osteuropäer weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen, und wählen sich nationalkonservative Regierungen, die die Demokratie aushebeln. Gehören die eigentlich in die EU?

Man muss diese Frage durchaus stellen. Wir sind in der Tat eine Wertegemeinschaft, das ist im Lissabon-Vertrag eindeutig auch noch einmal ausgedrückt worden. Den entsprechenden Passus – dass man auf die verstärkte Integration aller Mitglieder hinarbeitet – will aber auch der Brite David Cameron weitgehend streichen. Solche Tendenzen kann man nicht weiter zulassen, ohne damit die EU in Frage zu stellen.

Kam der Beitritt der Osteuropäer zu früh?

Das ging tatsächlich zu schnell. Obwohl es früh Gespräche gab, gleich, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. 2004 wurden die Länder dann nach elfjähriger Verfahrensdauer aufgenommen. Aber trotzdem war es eine politische Entscheidung, da hätte man sicherlich mehr Sicherheit walten lassen sollen.

Was passiert, wenn die Europäische Union zerbricht?

Europa ist nicht alternativlos, letztlich wird man über eine neue Vertragslösung nachdenken müssen. Ich kann es mir aber nicht vorstellen.

Gibt es einen Plan für ein solches Szenario?

Nein. Ich weigere mich auch, so etwas zu entwickeln. Weil ich den Weg, den wir mit der EU eingeschlagen haben, nach wie vor für richtig halte.

Im schlimmsten Fall könnten europäische Staaten wieder Krieg gegeneinander führen ...

Ja, im extremsten Fall. Man müsste Handelsverträge neu schließen. Wenn das nicht klappt, gäbe es wieder die Situation eines extremen Wettbewerbsdrucks. Das, gepaart mit Nationalismus, könnte wieder zum Krieg führen. Insofern will ich mir das gar nicht ausmalen, dass die EU tatsächlich zerbricht. Alle Alternativen sind schlechter für die Menschen.

Was passiert, wenn nach Polen, Ungarn und anderen Staaten auch Frankreich mit Le Pen nach rechtsaußen rückt?

Für Frankreich kann ich mir das nicht vorstellen, die Bindung an Parteien ist gering, und die Stimmung kann sich schnell wieder ändern. Aber letztlich muss man in solchen Fällen über Veränderungen der Struktur oder Austritte nachdenken. Im Lissabon-Vertrag steht durchaus, dass man die Zusammenarbeit auch nur mit einigen Ländern verstärken kann. Das ist nicht meine Idealvorstellung, aber ehe man auch nur einen Millimeter faschistischen oder rechtsnationalen Staatenlenkern nachgibt, bin ich dafür, nur noch mit den willigen Staaten weiterzugehen.

Was muss sich verbessern, damit die EU eine Zukunft hat?

Wir haben immer noch nicht in allen Mitgliedsstaaten die gleichen Arbeitsbedingungen, gleiche Lebenssicherheit, gleiche Perspektiven. Die EU muss Politikbereiche und Gesetzgebungen, die vielleicht ein bisschen schräg sind, aufgeben und sich dafür auf die zentralen Anforderungen konzentrieren. Dazu gehören auch die Migration, das Verhältnis zu Entwicklungsländern, Gerechtigkeit und die weltweite Verantwortung.

Müsste es eine europäische Regierung geben?

Wenn es eine Wirtschafts- und Währungsunion gibt, dann ist die logische Konsequenz, dass es auch europäische Finanz- und Wirtschaftsminister gibt, die die Fiskal- und wirtschaftspolitischen Aktivitäten lenken. Frankreichs Präsident Hollande und Kanzlerin Merkel haben das kürzlich im Europäischen Parlament skizziert, aber auf den Punkt haben sie es nicht gebracht. Dazu fehlte ihnen wohl der Mut.