Interview von Petra Rückerl in der Neuen Presse zum Brexit

Der langjährige Parlamentarier im Europaparlament, Bernd Lange (SPD) aus Hannover, befürchtet nach der Abstimmung über den Brexit neue Konflikte in Nordirland. Für ihn ist der wachsende Nationalismus in Europa das größte Problem. Dafür bedürfe es eines stärkeren Europas.

Katzenjammer in Großbritannien. Gibt es einen Exit aus dem Brexit?

So lange das Austrittsschreiben noch nicht da ist, läuft die Zeit ja noch nicht. Und auch während der Vertragsverhandlungen kann man das jederzeit zurücknehmen. Da sollten die Briten aber jetzt zügig reflektieren und eine klare Entscheidung treffen.

Kann man der Cameron-Regierung etwas mit auf den Weg geben?

Schöner wäre es natürlich, wenn die Briten drin bleiben würden. Aber wir haben ohnehin deutlich gemacht, dass wir fair verhandeln werden. Wir werden ja politische und wirtschaftliche Verflechtungen behalten, so dass den Menschen möglichst keine Nachteile entstehen werden.

Werden die Briten nicht ohnehin Nachteile haben, wenn sie wirklich rausgehen?

Ökonomisch wird das für die Briten schlimmer als für die EU. Man muss gucken, ob es dann eine Zollunion gibt oder ob es das norwegische Modell wird, das ja wesentlich auf Integration ausgelegt ist – ohne den Zwang, alles übernehmen zu müssen. Ich glaube nicht, dass man tatsächlich die harte Nummer fährt und gar keinen neuen Vertrag macht. Denn das würde zum Beispiel darauf hinauslaufen, dass der Mini dann mit zehn Prozent verzollt werden müsste.

Das norwegische Modell würde bedeuten, dass die Briten Einzahler wären, aber keine Mitspracherechte hätten. Genau das hatten die Brexit-Befürworter doch über die bisherigen Beziehungen behauptet.

Genau. Nur dann ist es real. Das Perverse ist ja ohnehin, dass die Briten viele fortschrittliche Gesetzgebungen blockiert haben, etwa jetzt gerade Handelsschutzinstrumente, die wir mit Blick auf Chinas Dumpingpolitik brauchen. Die blockierten die Briten im Europäischen Rat, aber daheim wurde gesagt, Europa schütze die englische Stahlindustrie nicht ausreichend.

Wie wird London reagieren, wenn das ölreiche Schottland als unabhängiger Staat dann wieder Mitglied der EU werden will?

Das werden sicher problematische Zeiten für London werden. Wenn die Staatlichkeit Schottlands feststünde, dann würde so ein Beitrittsverfahren schnell gehen. Die haben alle europäischen Gesetzgebungen übernommen, die 34 Kapitel könnten in ein bis zwei Jahren abgehandelt werden. Das größere Problem sehe ich in Nordirland, weil dort die Unionisten sicherlich wieder verschärft auf die Konfliktlinie gehen.

Droht dort ein neuer Bürgerkrieg?

Das Potenzial dafür ist jetzt da. Bisher ist da ein kleiner Grenzverkehr. Wenn es dort eine Art neue Grenze, auch eine ökonomische Grenze gibt, wird es den Konflikt sicher neu anheizen.

Eignet sich ein solches Thema wie die EU-Mitgliedschaft eigentlich für eine Volksabstimmung?

Eindeutig nein. Es ist ein sehr komplexes Thema mit vielen unterschiedlichen Interessen. Wie man in Großbritannien sehen konnte, lief es dann auf ein bis zwei Punkte hinaus, die von Populisten genutzt wurden. Ich glaube, eine solche Frage kann man nicht mit einer Volksabstimmung lösen.

Nationalisten in verschiedenen EU-Ländern kämpfen gegen die EU, weil die EU gegen nationalstaatliches Klein-Klein steht. Gibt es einen Ausweg?

Es ist ein generelles Phänomen, das der Rationalismus der EU in verschiedenen europäischen Hauptstädten nicht mehr so vermittelt wurde. Nicht Europa ist das Problem, sondern der wachsende Nationalismus. Das ist nicht nur am rechtspopulistischen Rand zu sehen. Die scheinbaren Eigeninteressen der Mitgliedstaaten werden stets vor die Gemeinschaftsinteressen gestellt, und im Resultat gibt die Europäische Union jetzt ein solch erbärmliches Bild ab. So lange dies so ist, haben Rechtspopulisten ein gefundenes Fressen.

Brauchen wir mehr Europa?

Ja, auf jeden Fall. Wir brauchen Finanzminister und Wirtschaftsminister, um wieder Wachstumspolitik zu machen. Wir haben 17 Länder, in denen die Jugendarbeitslosigkeit über 25 Prozent liegt. Das ist ein wirklicher Skandal.