Jacques Delors: Europa ist unser aller Schicksal, unser Projekt und unsere Hoffnung
Der Autor war Präsident der Europäischen Kommission. Diesen Text hat er mit Italiens Ex-Premier Enrico Letta und Pascal Lamy, dem früheren WTO-Generalsekretär, verfasst.
Wir sind Europa!
Wir sind Europäer, denn wir wollen, dass unsere Länder angesichts von Herausforderungen wie Klimawandel, Steuerhinterziehung, islamitischem Terrorismus und russischer Aggression ihre Souveränität uneingeschränkt ausüben.
Wir glauben, dass wir unsere Interessen besser verteidigen können, indem wir die
nationale Souveränität der Mitgliedstaaten bündeln und der Zusammenarbeit und Solidarität
den Vorzug geben, statt unsere Kräfte in einer Welt, die von Superstaaten beherrscht wird, zu
verzetteln.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass unsere britischen Freunde ihren eigenen Weg gehen möchten,
wünschen jedoch, dass die engen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich beibehalten
werden. Wir fordern die nationalen und europäischen Behörden auf, sich umgehend mit den
vielen anderen Herausforderungen zu beschäftigen, die die EU dringend angehen muss, und
bitten sie, die Gründe hervorzuheben, warum wir zusammen stärker sind.
Wir sind Europäer, weil wir die Demokratie, den Rechtsstaat, die Gleichstellung von Mann
und Frau, den Schutz von Minderheiten sowie den Verzicht auf die Todesstrafe teilen. Wir
können auf diese Prinzipien stolz sein, denn sie werden anderswo nicht im gleichen Umfang
wie bei uns verwirklicht.
Wir betrachten Asylsuchende als Opfer, nicht als Bedrohung und begrüßen die Tatsache, dass
die Anstrengungen, die gemacht werden, um eine effektivere Kontrolle unserer Außengrenzen
zu gewährleisten, uns erlauben, ihre Bewerbungen auf eine geordnete Art und Weise zu
prüfen und gleichzeitig unsere Sicherheit zu erhöhen.
Unsere Union bildet eine Wertegemeinschaft, die durch unsere Verträge bestätigt wird und
nicht verhandelbar ist. Wir sind besorgt über die Weigerung einiger Mitgliedstaaten,
gemeinsam gefällte Entscheidungen in Bezug auf Flüchtlinge tatsächlich umzusetzen, und
über die politische Entwicklung in Ländern wie Po- len und Ungarn.
Wir sind Europäer, weil wir ein Entwicklungsmodell teilen, das in der Lage ist, ungefähr ein
Viertel des globalen Wohlstands zu erzeugen, und zur gleichen Zeit versucht, den Ausstoß an
CO2 zu begrenzen. Wir freuen uns, dass die EU es geschafft hat, die Welt zur Unterzeichnung
der Vereinbarung gegen globale Klimaerwärmung zu überreden. Viele Menschen auf der
ganzen Welt sind der Ansicht, dass die EU die "grüne Fahne“ hochhält. Darauf können wir
stolz sein.
Wir mögen unsere Soziale Marktwirtschaft, die, wie in keiner anderen Region der Welt,
versucht, wirtschaftliche Effizienz und sozialen Zusammenhalt zu vereinen. Wir sind
Europäer, weil unsere lange kriegerische Geschichte uns beigebracht hat, die friedliche
Beilegung von Streitfragen zu bevorzugen.
Wir schicken weder Soldaten ohne Uniformen in Nachbarländer noch junge Leute in die
Öffentlichkeit, um sich in die Luft zu sprengen. Aber wir wissen, dass unsere Nachbarschaft in
der Ukraine, Russland, Syrien, Irak, Libyen und den Sahelländern instabil ist. Angesichts
dieser Bedrohungen müssen wir Zusammenhalten und unsere Verteidigung gemeinsam
gestalten und unsere Fähigkeiten, auf militärischer Ebene zu kooperieren, ausbauen. Wir
sollten uns nicht auf unseren amerikanischen Verbündeten verlassen.
Wir sind Europäer, auch wenn wir beklagen, dass die endlosen Krisen der Teilhaber des
europäischen Projekts viel zu viel von unserer Energie in Anspruch nehmen, ob es nun das
Überleben unserer Währungsunion oder die Flüchtlingskrise betrifft. Wir sehen jedoch, dass
diese Krisen nichtsdestotrotz willkommene Fortschritte gezeitigt haben. Da sind zum Beispiel
der Europäische Stabilitätsmechanismus, die Bankenunion, der europäische Grenzschutz und
das Europäische Solidaritätskorps. Sie bestätigen, dass wir in der Lage sind, unsere Union zu
vertiefen, auch unter Schwierigkeiten.
Es wäre jetzt die Aufgabe aller, eine positive Vision der Europäischen Union als Garant von
Chancen und Schutz gegen die vielen Bedrohungen zu verbreiten und ihr im Rahmen des 60.
Jahrestags des Vertrags von Rom neuen Schwung zu verleihen. Wir glauben mehr denn je, dass
Einigkeit stark macht. Ja, wir sind Europäer und wir werden es morgen noch mehr sein als
heute.